Alternative: Wahrheit
Dem Kaninchen nach!
Du hast dich in den Sozialen Netzwerken zum Thema Corona informiert, darum bist du hier. Vielleicht gehen dir die Artikel mit Titeln wie „Meine Mutter, die Verschwörungstheoretikerin“ auf den Nerv und die Appelle zur Corona-Impfung noch mehr.
Du hast gehört, Impfungen gegen Corona seien nicht sicher, im Gegenteil sogar gefährlich und könnten Corona-Erkrankungen nicht verhindern?
Du fragst dich, ob Flugzeuge das Corona-Virus mittels Chemtrails verbreiten?
Du hast gelesen, es existieren Verbindungen zwischen Pfizer, George Soros und Bill Gates?
Es ist oft schwierig zwischen Fakt und Fake zu unterscheiden. Die oberen Behauptungen wurden jedoch alle von professionellen Fakten-Checkern widerlegt.
Und zwar wurde die erste Behauptung hier von Correctiv widerlegt, die zweite hier von Mimikama und die dritte hier wieder von Correctiv.
Du glaubst den Fact-Checks nicht? Skepsis ist prinzipiell gut! „Eine Gesellschaft braucht solche Leute dringend“, berichtet uns Ulrike Schiesser von der Bundeststelle für Sektenfragen im Online-Interview. „Leute, die den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen, die das auch aushalten, anders zu denken und anders zu sprechen als die Mehrheit. Es ist ja eigentlich ganz wichtige Qualität, solche Menschen zu haben.“ Die Psychologin ist derzeit eingespannt, denn die Anfragen an ihre kleine Crew von Berater*innen häufen sich während der Pandemie. Es rufen meist Angehörige von verschwörungsgläubigen Menschen an, die nicht wissen, wie sie mit den Überzeugungen ihrer Liebsten umgehen sollen. Ein wichtiges Argument der Verschwörungsgläubigen: Verschwörungen gibt es.
Lerne Gerald aus Oberösterreich kennen, der sich in diesen Mythen sehr gut auskennt, weil er jahrelang von ihnen überzeugt war:
Machtmissbrauch und Manipulation existieren unbestreitbar. Volkswagen u.A. haben die Abgastests für ihre Dieselmotoren manipuliert, um Konsumenten und Behörden zu täuschen. Ein US-amerikanischer Geheimdienst hat heimlich zivile Internetuser auf der ganzen Welt ausspioniert und im Watergate-Skandal von 1972 hat das Weiße Haus seine Macht missbraucht, um sich illegal Informationen über den Wahlkampfgegner zu beschaffen.
Wieso also nicht auch Chemtrails, fragst du dich?
Achte darauf, einige Schwellen nicht zu überschreiten, bei denen du die konventionelle Denkweise hinter dir lässt und ins problematische, konspirative Denken wechselst (s. dazu das Handbuch über Verschwörungsmythen). Das geschieht, wenn die gesunde Skepsis einem Generalverdacht weicht, sei es gegen die „politische Elite“ oder das „Weltjudentum“ und wenn Beweise keine Rolle mehr spielen. Konventionelles (aber kritisches) Denken sucht nach plausiblen Zusammenhängen, während konspiratives Denken überall Zusammenhänge mit der Verschwörungserzählung erkennt und Zufälle negiert. Tatsächliche Verschwörungen werden von konventionellem Denken entlarvt, stellten Kognitionspsychologen in einer Studie von 2017 fest. Also von gesunder Skepsis gegenüber offiziellen Berichten, sorgfältigem Abwägen der verfügbaren Beweise und durch Beachtung interner Stimmigkeit.
Verschwörungsmythen und Falschinformationen haben in der Corona-Pandemie laut Gallup-Studie jedenfalls vermehrt ihren Weg in die Smart-Phones und Desktops der Österreicher*innen gefunden. Und mit mehr Verschwörungscontent sind auch mehr Österreicher*innen verunsichert, ob es sich bei Verschwörungsmythen um Tatsachen handelt oder nicht: Zwar beträgt die Zahl der Österreicher*innen, die an Corona-Verschwörungstheorien tatsächlich glauben nach Untersuchung des Corona-Panels der Universität Wien nur 5-15%. Allerdings beobachten die Autoren auch, dass etwa 60% der Befragten sich bei mindestens einer der abgefragten Falschaussagen zumindest unsicher sind, ob sie nicht doch richtig sein könnte. Du bist also nicht allein.
Der Sturz in den Kaninchenbau
„Irgendetwas stimmt hier nicht“ – dieses diffuse Gefühl steht für viele am Beginn der bildhaften Reise in den Kaninchenbau der Verschwörungserzählungen. Nach einiger Recherche kommt dazu „Irgendetwas stimmt hier nicht – und ich habe es als eine*r der Wenigen durchschaut.“
Verschwörungserzählungen bieten eine einfache Erklärung für komplexe Dinge. „Es gibt Dunkel und Hell und es gibt viel Falsch und Richtig und es gibt wenig Zwischenstufen“, berichtet Ulrike Schießer von der Bundeststelle für Sektenfragen aus ihrer beruflichen Erfahrung. Gerade in schwierigen Lebenssituationen spricht uns das an. Wir haben weniger das „Gefühl einer chaotischen, zufälligen Welt ausgeliefert zu sein.“ Und das Wissen gebe Kontrolle zurück.
Verschwörungserzählungen sprechen uns „auf kognitiver, emotionaler und sozialer Ebene an“, erklärt Psychologin Brigitte Rollett. Sie ist emeritierte Ordinaria der Universität Wien und arbeitet in ihrer Praxis häufig mit Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben.
Sie hat an ihnen eine Gemeinsamkeit beobachtet: Besonders das Volksschulalter sei dafür prägend, wie wir zu Verschwörungsmythen stehen, erläutert Rollett. Kurz gesagt, stand man in der Schule immer abseits, ist man später im Leben anfälliger für Verschwörungsglauben. Dies bestätigt auch Gerald, mit dem wir das YouTube-Video gedreht haben: Er empfand sich als Außenseiter. Aber als er begonnen hatte an Verschwörungsmythen zu glauben, fühlte er sich besonders und erwählt.
Time is Up!
Fast suchtartig lies Gerald sich online in die einzelnen Mythen ein und überlegte permanent, wie alles zusammenpassen könnte, berichtet er uns. Wer sich z.B. via YouTube über ganz vernünftige Kritik an Coronamaßnahmen informiert, dem schlägt der Youtube-Algorithmus weitere Videos zu diesem Thema vor, tendenziell aber immer extremere. Denn die Algorithmen verfolgen den Zweck, User so lange wie möglich am Bildschirm zu halten, um Werbung schalten zu können. Und wann sieht man weiter gespannt zu? Wenn zwei unserer stärksten Gefühle angesprochen werden: Angst und Wut. Diese haben aber einen Nebeneffekt: Sie machen uns unvorsichtig, ob wir es noch mit Fakten oder schon mit Desinformation zu tun haben. (Beispiel)
Menschen, die sich intensiv mit diesen Algorithmen in Social Media beschäftigen nennen das eine Radikalisierungsspirale (z.B. hier und hier). Dass die großen Plattformen wie Facebook und Twitter Verantwortung zu übernehmen haben, dass sich Desinformation und antisemitische Narrative im öffentlichen Diskurs nicht verbreiten, ist mittlerweile juristischer und gesellschaftlicher common sense. Andre Wolf von Mimikama: „Das Problem ist, sie sind mit der Markierung und Entfernung falscher Inhalte schlichtweg zu langsam.“ Ist ein Video mit Desinformation und phantasievollen Verschwörungstheorien zB ein, zwei Tage auf Facebook kann es sich weit verbreiten, insbesondere auch auf anderen Plattformen, wie z.B. in WhatsApp-Chatgruppen oder seit neuestem auch in Telegram-Gruppen. Korrigiert Facebook die Falschmeldung nach einem Tag, sehen das die User in den Telegram-Gruppen nicht mehr und teilen sie weiter. Andre Wolf ist Teil der größten Fact-Checking-Plattform Österreichs, die die viralen Falschmeldungen überprüft und richtigstellt. Auch wenn es einer Sisyphusarbeit gleicht, immer ähnliche Verschwörungsmythen zu fact-checken und widerlegen glaubt er: “Das Wichtige ist, dass wir es nicht zulassen, dass die Menschen die Probleme haben, Informationen zu sortieren, sich auf Social Media einfach so in diese Spirale begeben. Es ist wichtig, dass wir an einem Punkt sagen: Stopp hier!”
„Die großen Plattformen werden das Problem wahrscheinlich nicht allein lösen können oder wollen“, meint Thomas Prager von der Organisation „Digitaler Kompass“, die im Rahmen von Workshops junge Leute in Sachen Medienkompetenz schult. „Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht davon, dass es eine sogenannte redaktionelle Gesellschaft braucht. Weil jeder Mensch mit Smartphone, Internet und Facebook- oder TikTok-Account ja selbst ganz einfach Botschaften massenhaft aussenden und empfangen kann. Und deshalb muss jeder Mensch auch diese ganz grundlegenden, journalistischen Techniken der Informationsbewertung lernen, bevor er etwas weiterschickt.“
Gezielte Falschmeldungen lassen sich häufig in einen größeren Kontext einordnen.
Zum Beispiel zum Thema Impfen. Schon 1881 sei eine Verschwörung hinter den Pockenimpfkampagne erdacht worden, so Giulia Silberberger, vom Goldenen Aluhut, einer Organisation in Berlin gegen Fake News und Verschwörungideologien. Impfkritik ist natürlich nicht per se antisemitsch. Die Einordnung in eine jüdische Weltverschwörung hinter der Impfung, die auch heute wieder vorkommt, erfolgt jedoch häufig einem antisemitischen Muster. Und Behauptungen, Corona-Impfungen würden nichts nützen werden hier widerlegt.
In der Erzählung zu den Corona-Virus verbreitenden Chemtrails, wird die Weltgesundheitsorganisation WHO massiv angegriffen. Mimikama hat sie hier widerlegt. Diese Erzählung ordnen wir der Idee einer sogenannten „Plandemie“, also einer von Eliten geplanten Pandemie ein. Doch auch die Geschichte einer geplanten Pandemie sei nicht neu, erläutert Giulia Silberberger: „Ebola ist ein Top-Beispiel“. Auch damals habe es Erzählungen über das Impfen, Bill Gates oder die WHO gegeben. Die finanzielle Unterstützung der Bill & Melinda Gates Fundation ist in der Tat wesentlich für die WHO. Tatsachen werden hier jedoch wieder mit antisemitischen Erzählungen verknüpft. Gates wird fallweise „Jude oder Freund von Juden“ genannt, wie etwa Alpine Peace Crossing darlegt.
Nun zur der von Correctiv hier als größtenteils falsch ausgewerteten, Behauptung, das Labor in Wuhan gehöre Glaxosmithkline und es gebe eine Kette von Verbindungen über Pfizer, Dr. Fauci und Blackrock bis zu George Soros und Bill Gates.
Microsoft-Gründer Bill Gates spielt eine Rolle in antisemitischen Erzählungen. Auch Philanthrop und Milliardär George Soros kommt häufig darin vor. Der aus Ungarn stammende Soros hat jüdische Wurzeln. Im Hintergrund der oberen, Großteils falschen, Behauptung steht wieder die Geschichte einer jüdischen Weltverschwörung. „Wenn wir an Sachen wie die jüdische Weltverschwörung denken und diese alten Ritualmordlegenden, gebe ich immer als Beispiel, dass man früher auch erzählt hat, dass die Juden christliche Kinder entführen, um ihnen das Blut abzuzapfen und damit dunkle Magie zu betreiben und Brot zu backen (…)”, sagt Silberberger.
Du fragst dich nun, wie du hier gelandet bist? Corona-Kritik gut und schön, aber mit antisemitischen Verschwörungserzählungen wolltest du eigentlich nichts zu tun haben? Damit bist du nicht allein, wie du am Beispiel von Gerald siehst.
Der Weg hinaus
Sich in Verschwörungserzählungen zu verheddern hat nichts mit Intelligenz zu tun, wie Ulrike Schießer sagt: “Verschwörungsmythen haben null zu tun mit Intellekt. Null, null, null. Es geht um Emotion.“ Und wenn man weiß, wie Verschwörungsmythen arbeiten und unsere Emotionen ansprechen, kann man sie auch leichter entlarven. Gerald konnte sich lösen und klärt jetzt über die Mechanismen von Verschwörungsmythen auf. Hier kannst du Geralds Geschichte noch einmal ansehen.
Desinformation arbeitet mit verführerischen Abzweigungen von der faktischen Welt. Diese Abzweigungen sind unter dem PLURV-Prinzip bekannt. Pseudoexperten stützen den Mythos, der Logikfehler beinhaltet. U steht für unerfüllbare Erwartungen an die Wissenschaft (und Medien, möchten wir hinzufügen). Nämlich die, dass sie keine Fehler machen. R und V stehen für Rosinenpickerei und Verschwörungsmythen. Folge diesem Prinzip und zack! ist Verwirrung gestiftet.
Falls du gerade dabei bist, dich auf YouTube über die von Verschwörungsgläubigen erdachte “Plandemie” zu informieren, sieh dir doch auch die unterhaltsamen Reaction-Videos von Ascendancer dazu an.
Beratung zum Thema Verwschwörungsmythen findest du hier, ganz egal ob du selbst verunsichert über den Wahrheitsgehalt bist oder ob du dich um Angehörige oder Freunde sorgst: